Gibt es auch als Podcast: //
Es ist gerade anstrengend den Berg mit 12% Steigung mit dem Rennrad hochzufahren. Ich weiß, dass es noch gut 6km ähnlich weitergeht. Im Schnitt erwarten mich 10% Steigung, also noch gut 600 Höhenmeter zu bewältigen. Mein Powermeter zeigt gut 210W an, dass sind 3,1 W/Kg Körpergewicht. Ich weiß, dass ich aufpassen muss nicht viel mehr zu treten. Mein Tacho zeigt 11 km/h. Das bedeutet noch eine halbe Stunde Bergauf. Ich kenne diese Etappe nicht, war noch nie hier. Klar sind meine Werte nicht gerade berauschend für ein Rennradfahrer, sondern eher sehr bescheiden. Wie gerne würde ich mit 350W powern, es so machen wie es früher mal ging. Trotzdem sollte ich dankbar sein und demütigt meinem Schicksal entgegentreten. Es ist ohnehin ein Wunder, dass ich Fahrrad fahren darf. Und dann passiert es. Eine Horde von Motorradfahrern kommen mit einem Affenzahn von hinten angerauscht. Sie fahren eng an mir vorbei, schneiden mich und ich muss von Glück reden, dass ich nicht stürze. Der letzte, der mich überholt hat ist gut 110kg schwer. Wenn ich mir überlege, mit was für einer Power er beschleunigt hat, dann schätze ich, dass er auf sein Körpergewicht umgerechnet gut 390W/kg Leistung zur Verfügung hat. Ganz richtig; er hat 126-mal mehr Power als ich! Genau so fühlt er sich auch, als absolut mächtig und überlegen. Wahrscheinlich ist er in 2 bis 3 Minuten oben und fühlt sich voller Adrenalin wie ein Gott.
Ich schnaufe und unterdrücke meinen Frust. Gott sei Dank kommt jetzt ein flacheres Stück, so 8% Steigung schätze ich, ich kann mich etwas erholen. Ich würde so gerne sehen, wenn der 110kg Mann jetzt neben mir mit dem Radl fahren würde. Der müsste, um mit mir mitzukommen 310 Watt auf die Pedale bringen, und zwar per Muskelkraft, nicht mit der Hand am Gashebel. Wetten, dass er spätestens nach 3 Minuten total abkacken würde? Ich zwinge mich diese Gedanken beiseitezulegen, was hilft es mir mich über andere Menschen aufzuregen. Das Einzige was ich an Gedanken zulasse ist die Erkenntnis, dass durch die unglaubliche Technik, die meisten Menschen den Bezug zur eigenen Leistungsfähigkeit komplett verloren haben. Maschinen leisten nicht nur das hundertfache eines Menschen, sondern teilweise das hundertausendfache. Meistens beherrschen wir diese enorme Kraft mit dem kleinen Finger. Manchmal aber auch nicht. Eines wird mir aber klar; wir verlieren den Bezug zur eigenen Leistungsfähigkeit. Vielleicht verlieren wir auch es wertzuschätzen, was wir aus eigener Kraft und Anstrengung imstande sind zu leisten. Klar muss man sich in Bescheidenheit üben und die Ziele anders stecken. Man muss sich anstrengen, schnaufen, schwitzen und den Schmerz in der Lunge und den Muskeln ertragen. Das was früher uns auszeichnete, wird heute gemieden. Die wenigen Profisportler, die häufigeren ambitionierten Amateursportler und die Freizeitsportler treiben Sport aus unterschiedlicher Motivation. Die meisten Menschen bewegen sich nicht aus eigener Muskelkraft, sondern sind motorisiert unterwegs. Ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit. In den 60ger Jahren waren Autos mit 40 – 60 PS schon super. Heutzutage sind Autos mit über 100 PS völlig üblich. Ein PS sind ungefähr 735 Watt. Wir hatten mal eine Ente (2CV) mit 18 PS, die gab es sogar mit 12 PS (9000 W) wie mir mein Vater damals erklärte. Die wog damals 560 kg. Hätte ich die Power/Kilogramm der Ente, dann hätte ich 14,3 W/kg zur Verfügung und würde alle Radfahrer am Berg versägen. Im Sprint hätte ich keine Chance, da schaffen die Profis über 20W/kg. Wow, da müsste ich kurzzeitig 1360W auf die Pedale bringen können. Ich habe ein Test gemacht und bin gerade mal für 5 Sekunden auf 812 W gekommen, nicht einmal 12W/kg. Mein Fazit ist, dass ich eine wirklich lahme Ente bin. Trotzdem bin ich mit mir zufrieden.
Die Zeit ist wie im Traum vergangen, nur noch wenige Meter bis Oben. Ich schwitze wie ein Irrer, spüre meine Beine wieder und freue mich auf die Abfahrt. Tatsächlich sind schon 28 Minuten vergangen, seitdem ich von den Motorädern überholt wurde. Ich frage mich, wo die schon sind, 70 km weiter oder bereits im Krankenhaus, im Himmel oder in der Hölle. Egal, jetzt was trinken, was essen und weiter. Es warten noch gute 80 km bis nach Hause auf mich. Dort werde ich gut essen, immerhin werde ich über 2000 KCal zusätzlich verbrennen. Der Mensch ist was Leistung anbelangt ein bescheidenes Wesen… oder vielleicht doch nicht so ganz, weil wir einfach den Bezug zu uns selbst verloren haben. Wir haben unsere Natur durch Technik ausgetrickst, reale Pferde durch Motoren mit enormen Pferdestärken ersetzt. Wir bewegen uns mit für uns unnatürlichen Geschwindigkeiten, legen Strecken in kürzesten Zeiten zurück. Wir glauben sehr schlau und geschickt mit unserem Leben umzugehen, fühlen uns allem überlegen. Ich muss da an eine Überlieferung aus dem Jahre 1835 denken, als die Dampflok Adler erstmals zwischen Nürnberg und Fürth eingeführt wurde. Da soll es ein Gutachten des Bayerischen Medizinalkollegiums gegeben haben, bei dem behauptet wurde, dass Geschwindigkeiten über 30 km/h beim Menschen geistige Unruhe und Schäden hervorrufen würde. Früher habe ich über so einen absoluten Unsinn herzlich gelacht. Heute tue ich es nicht mehr, denn ich denke, dass an dieser Behauptung was dran ist. Die, die sich überwiegend mit Zusatzpower fortbewegten hatbekeine Ahnung wie es ist sich täglich aus eigener Kraft zu bewegen. Die, die wie die Irren aus eigener Körperkraft extreme Belastungen absolvieren, sind auch nicht ganz dicht im Kopf. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Mensch in der Lage ist, die Tour zu fahren (2021: 21 Etappen, 3383 Kilometer, zwei Zeitfahrten, drei Bergankünfte, 50.000 Höhenmeter, Durchschnittsgeschwindigkeit 41,165 km/h). Immerhin sind es sehr wenige, die das machen. Was zum Teufel ist mit uns los, haben wir so sehr den Bezug zur Realität verloren? Ich glaube ja, das haben wir. Wir haben keine Ahnung, warum wir Leben und was für ein Sinn das alles macht. Dabei haben wir einen Körper, der für die Bewegung erschaffen wurde. Den brauchten wir, um zu überleben. Heute sieht es anders aus, den Körper brauchen wir nach wie vor zum Überleben – für die heutzutage notwendige Bewegung ist er total überdimensioniert.