Frage dich immer, ob du mit deiner Meinung richtig liegst!
Meine vordergründige Meinung
Wie jedes Jahr bin ich zur Zeit des Marathons wieder in Boston. Die Elite der Männer ist gerade ins Ziel gekommen, kurz darauf folgten die Frauen. Diesmal habe ich es von meinem Hotelzimmer aus im Fernsehen verfolgt, letztes Jahr war ich an der Ziellinie dabei. Ich bin froh darüber, denn das Wetter ist nicht gerade prickelnd und meine Begeisterung für diese Art von Veranstaltung hat sich deutlich abgekühlt.
In den letzten 15 Jahren habe ich so viele Marathonveranstaltungen fotografiert, dass meine Begeisterung erschöpft ist. Die Pressekonferenzen, die Atmosphäre vor und nach den Rennen, die Kollegen und das Essen in den Pressezentren hatten etwas Anziehendes. Man kannte sich, mochte sich bis zu einem gewissen Grad, redete miteinander, sprach mit den Spitzensportlern und fühlte sich wichtig. Heute frage ich mich, wie ich eigentlich dazu gekommen bin, dort zu sein. Ich war und bin kein begeisterter Marathonläufer und ich finde auch dieses ganze Getue von Leuten, die sich damit aufwerten und definieren, absolut lächerlich. Einen Marathon zu laufen ist nichts Besonderes, die meisten Menschen können das. Ich habe großen Respekt vor jedem, der sich dazu entschließt, aber dieses ganze Getue und hysterische Getue geht mir wirklich auf die Nerven. Manche Leute, für meinen Geschmack zu viele, tun so, als ob sie etwas Unglaubliches und Einzigartiges getan hätten, dabei ist es etwas ganz Normales. Millionen haben es getan und Millionen werden es weiterhin tun. Warum brauchen viele von uns immer diese Krücken in der Öffentlichkeit, um sich selbst zu bestätigen, um sich und anderen zu beweisen, dass wir wertvoll sind? Ich verstehe es, wenn jemand in aller Bescheidenheit beschließt, einen oder mehrere Marathons zu laufen und es auch tut. Ich verstehe es auch, wenn jemand damit Geld verdient, ich verstehe sogar die öffentliche Vermarktung. Aber wenn es um die Abertausende von Läufern geht, die in Marathons einen Sinn suchen, habe ich überhaupt kein Verständnis; die gehen mir wirklich auf die Nerven. Also frage ich noch einmal, wie ich dazu kam, als Marathonfotograf zu arbeiten. Es war die Liebe zu meiner Frau. Sie war eine bescheidene begeisterte Marathonläuferin, die nie damit prahlte oder sich über Zeiten und gelaufene Marathons definierte: Im Gegenteil, sie teilte alles ganz still und heimlich mit mir. Ich begleitete sie oft, feuerte sie an, half ihr, ihre eigenen Ziele zu erreichen und tröstete sie, wenn es nicht klappte. Danach arbeiteten wir als Journalisten zusammen, sie berichtete, ich lieferte die Fotos. Es war eine wunderbare und interessante Zeit, die ich nicht missen möchte. Aber diese Zeit ist vorbei; jetzt gibt es andere Aufgaben in unseren beider Leben.
Erst gestern hatte ich ein Gespräch mit einem älteren Mann, der ein begeisterter Läufer ist und sein Leben dem Laufen gewidmet hat. Er kennt die ganze Geschichte des Marathons, hat Bücher darüber geschrieben und gilt als Experte auf diesem Gebiet. Er hatte Verständnis für meine Einstellung. Ich fand seine Aussage über die heutigen Marathons aufschlussreich und wahr. Heutzutage laufen so viele Menschen Marathons, um anzugeben und Status zu erlangen, während wir früher aus Liebe zum Laufen gelaufen sind. Wir waren eine kleine Gemeinschaft, die diese Leidenschaft teilte. Heute ist der Marathon zu einer Massenveranstaltung geworden, bei der es einer narzisstischen Mehrheit nur noch ums Geschäft geht.
Einige sinnvolle Institutionen sind jedoch auf diese Veranstaltungen angewiesen, um etwas Gutes zu tun. Deshalb bin ich kein Gegner, sondern ein Befürworter von großen Marathonveranstaltungen. Sonst würde ich jetzt nicht in Boston sein. Trotzdem finde ich es äußerst schwierig, jemandem mit Hochachtung und Begeisterung zu seiner Leistung zu gratulieren. Es gibt immer noch Leute, die stolz die Sechs-Sterne-Finisher-Medaille präsentieren. Sie haben alle sogenannten Major Marathons absolviert. Toll, na und? Es kostet eine Menge Geld, um die Welt zu reisen und in Berlin, Tokio, New York, Boston, London und Chicago gelaufen zu sein. Es gibt mittlerweile über 20 Tausend, die es geschafft haben. Wenn jemand das kann und muss, ist das in Ordnung; aber bitte gib nicht damit an.
Man könnte durchaus argumentieren, dass mich diese Entwicklung zusammen mit der Mehrheit der Marathonläufer aggressiv macht. Ich verrate hier gerne, was mich eher erfreut. Wenn sich jemand mit anderen Menschen freudig zum gemeinsamen Laufen trifft, weil es schön ist, zusammen zu laufen. Weil sie gemeinsam etwas unternehmen, sich austauschen oder sogar, weil sie sich gegenseitig motivieren und sich anstrengen. Diese Welt wird immer egozentrischer. Egozentrik soll über die Lehre von der Sinnlosigkeit hinweghelfen. Es ist eine Selbsttäuschung, die das Fehlen von Verantwortung gegenüber sich selbst verbergen soll. Die Rechnung geht nicht auf, selbst wenn du eine Lebenslüge für die Wahrheit hältst. Du kennst das Sprichwort: „Jeder kann alles erreichen, wenn er es nur wirklich will“. Das ist der sicherste Weg, im Leben zu scheitern. Heute habe ich wieder Tausende von Versagern den Marathon laufen sehen. Ich sollte es für mich behalten, denn die Wahrheit ist und bleibt meistens verborgen. Außerdem mache ich mir wieder viele Feinde, wenn ich sie ausspreche.
Morgen kehre ich wieder nach Hause zurück. Ich freue mich auf mein Rad, meine Umgebung und bei Alltag. Es wartet viel Arbeit auf mich – Überzeugungsarbeit. Suche das Glück in der Wahrheit und bleibe bescheiden. Du bist gut genug, wenn du dich anstrengst Dinge zu tun, die dir wichtig sind. Du brauchst nicht mit etwas anzugeben, weil es andere tun. Ich weiß, eine fast unmögliche Überzeugungsarbeit, aber ich gebe nicht auf: ein Marathon laufen, kann so ziemliche jeder.
Meine reflektierte Meinung /Aber vielleicht für viele andere wertvoll!
Menschen gratulieren sich gegenseitig, sie strahlen voller Stolz und Freude. Sie tragen ihre Medaillen um den Hals. Viele hinken oder gehen sichtlich angeschlagen, von den Strapazen gezeichnet. Teilweise gehen sie Seite an Seite mit ihren Freunden oder Familien, die sie angefeuert und unterstützt haben. Ihre Sichtweise ist sicher eine andere als meine. Für sie ist wahrscheinlich ein Traum in Erfüllung gegangen, sie haben was Großes geleistet. Allein, ganz für sich, hätten sie es wohlmöglich nicht geschafft. Was ist richtig, was ist falsch; was ist Lüge was ist Wahrheit. Wer gibt wem das Recht zu richten, in die eine oder andere Richtung?
Ich hinterfrage meine Gedanken und bemerke, dass ich nicht meine Interessenlosigkeit durch eine Pauschalverurteilung rechtfertigen sollte. Vielleicht stimmt ja sogar einiges, was ich geschrieben habe, aber ist das für andere Menschen relevant? Ich denke nicht. Ich glaube ich sollte es einfach dabei belassen, dass für mich die ganze Welt um das Marathon geschehen uninteressant geworden ist, weil ich jetzt andere Schwerpunkte verfolge. Das sollte genügen. Ein schöner Gedanke, ein befreiender Gedanke. Wir leben in einer gespaltenen Welt, bei der wir uns zunehmend voneinander abwenden. Wir beschuldigen uns gegenseitig, fühlen uns im Recht die Guten zu sein. Dabei verurteilen wir andere Menschen böse zu sein. Ich gebe mir einen Ruck und beschließe meine Kritik samt Begründung zu redigieren. Lass es Gut sein ermahne ich mich, lass den Menschen ihr Marathon und höre auf sie zu kritisieren. Sie haben es sich hart verdient gelobt zu werden.