Gibt es auch als Podcast
Nachdenklich über mein derzeitiges Wohlbefinden, dass zugegebenermaßen nicht gerade stabil verläuft, suche ich nach Erklärungen, warum das so ist. Nicht stabil bedeutet labil, also schwankend zu sein. Ja, die Ausgangsbeschränkungen setzten mir zu, machen mir meine derzeitige Lage gnadenlos deutlich – nämlich mich zu fragen, ob ich eine wirkliche erfüllende Aufgabe innehabe.
Demnach postuliere ich hier, dass eine Grundvoraussetzung für das Wohlbefinden von Menschen es ist, eine oder mehrere erfüllende Aufgaben für das Leben parat zu haben. Ich meine keine aufgesetzten Aufgaben, die diesen Zweck erfüllen, sondern Herzensaufgaben. Es macht doch Sinn etwas Sinnvolles zu tun und nicht etwas zu tun, damit man sich vormachen kann, dass man was Sinnvolles tut. Da stehe ich also vor der Frage, wo stehe ich gerade jetzt mit meinem Tun?
Wären meine jetzigen Aufgaben tatsächlich Herzensangelegenheiten, dann müsste ich, trotz widrigen äußeren Umständen, ein stabiles Wohlbefinden empfinden. Nun, das ist leider nicht der Fall. Bin ich schon auf dem Abstellgleis geraten, dort wo viele Menschen landen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden? Gehöre ich zu den Menschen, die wie abgestellte Tiere ein Gnadenbrot bekommen und pseudomäßig als nützliche Wesen betrachtet werden, jedoch keinerlei Bedeutung für die produktive Gemeinschaft haben? Muss ich damit rechnen mit Aufgaben betreut zu werden, damit ich dem schlechten Gewissen meiner Mitmenschen gerecht werde und diese nicht durch meine Anwesenheit im Wege stehe? Ich kann mich sehr wohl an eigene Zeiten erinnern, bei denen ich so über andere Menschen geurteilt habe. Und ja, ganz ehrlich ich bereue es heute sehr!
Ich möchte euch eine Geschichte aus meiner Vergangenheit erzählen. Als junger Student, arbeitete ich als Postfahrer für den Paketzustellungsdienst. Damals wurden viele Hilfskräfte für die Ferienzeiten gebraucht. Ich tat es gerne, fühlte mich großartig diesen Job zu machen. Anfänglich hatte ich ein Bezirk mitten in Bad Cannstatt zugewiesen bekommen. Nicht unbedingt die feinste Gegend, denn es gab dort viele Wohnbezirke rund um den Schlachthof, die eher arm waren. Für die Postzusteller war meine Route jedoch beliebt, da arme Bürger mehr Trinkgeld gaben als Reichere. Ich machte täglich die obligatorische Mittagspause in der Nähe des Krankenhauses, dem Wannenäckern Park. Dort fand ich ein Plätzchen mit viel Ruhe. Eines Tages kam ein Penner daher und setzte sich zu mir. Ich hatte nie Probleme mit Penner und fand es sogar sehr amüsant mich mit ihm zu unterhalten. Bald forderte er mich auf eine Schachpartie mit ihm zu spielen, was ich gerne annahm. Nun, binnen eine halben stunde hatte ich bereits dreimal verloren. Er war wirklich ein Schachmeister. Er erzählte mir sein Leben, dass er mal Mathematikprofessor war und nun durch viele unglückliche Umstände und Zufälle auf die schiefe Bahn geraten war. Er verlor alles, sein Job, seine Familie und seine Würde. So kurz und prägnant werden Schicksale immer und immer wieder erläutert. Das Ausmaß an Leid, an Schmerz und Enttäuschung während eines langen Lebens wird auf eine 10 Sekundenmitteilung reduziert. Er passte nicht mehr in unsere Welt hinein, war nicht mehr von Nutzen. Für mich galt es damals so nicht. Ich zog unendlich viel Nutzen aus der Freundschaft, die sich dann mit dem Pennerprofessor und mir entwickelte. Für mich war er eine Art Mentor, denn durch seine Hilfe sah ich den Abgrund, der sich vor mir bildete. Ich denke ich habe ihm viel zu verdanken und hoffe mein geteiltes Mittagsessen half ihn auch besser über die Runden zu kommen. Er freute sich auf mich und wartete jeden Tag auf unsere gemeinsame Zeit. Eine dreiviertel Stunde Unterhaltung, eine dreiviertel Stunde Sinngebung für zwei Menschen, die der Zufall zusammengebracht hatte. Ich möchte hier nicht Einzelheiten unserer Gespräche wiedergeben, aber soviel möchte ich verraten. Er war mein bester Therapeut. Anfangs dachte ich, der arme Penner, muss frieren, hat Hunger, ist Alkoholiker, hat keine Menschen, die ihn lieben und achten und hat nicht einmal Geld für Zigaretten. Dabei war ich die arme Seele. Damals ahnte ich bereits, dass wahre Größe anders definiert werden muss. Wisst ihr was mir heute immer deutlicher wird? Er hätte auch seinem Leben ein Ende bereiten, sich von allen Qualen befreien und einfach aufgeben können. Er tat es nicht. Er war kein Feigling, weil er das nicht tat, sondern im Gegenteil er war ein Held. Wenn alle sich gegen dich wenden oder noch schlimmer, wenn die Ganze Welt dich ignoriert, dich nicht mehr braucht und dich nicht mehr wahrnimmt, dann bist du wirklich einsam. Ich vergesse niemals seine Worte, die er mir am letzten Tag unserer Begegnungen mitgab. „Horst du bist noch einsamer als ich es bin, der Unterschied zwischen uns ist, dass ich es weiß und du noch nicht“
Jetzt kehre ich zu meiner anfänglichen Fragestellung zurück:
Es macht doch Sinn etwas Sinnvolles zu tun und nicht etwas zu tun, damit man sich vormachen kann, dass man was Sinnvolles tut. Da stehe ich also vor der Frage, wo stehe ich gerade jetzt mit meinem Tun?
So muss ich mir zugestehen die Frage nicht ganz zutreffend formuliert zu haben. Ich stehe vor der Fragestellung, ob ich überhaupt in meinem Leben was Sinnvolles getan habe. Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Eines weiß ich aber dafür mit Sicherheit. Ich war und bin ein sehr einsamer Mensch, wie jeder von uns es ist und sein wird. Ich habe viel zu oft weggeschaut, weil die Angst vor dem Schmerz der Erkenntnis mich davor abgehalten hat. Es ist die knallharte Logik, vielleicht die eines Mathematikprofessors. Nur wenn du nicht mehr gebraucht wirst, merkst du wie einsam du bist. Ein Trost gab er mir aber auch noch auf meinem Weg mit. „Wenn du wirklich von einem einzigen Menschen geliebt wirst, der nicht von dir abhängig ist, dann bleibst du trotzdem einsam, aber du hast großes Glück im Leben gehabt.“
So stehe ich heute mit der Erkenntnis: Ich bin ein einsamer, glücklicher Mann. Ob es mir mit meiner neuerworbenen Erkenntnis besser geht, bleibt abzuwarten. Ich muss wohl oder übel eine sinnvolle und erfüllende Aufgabe für mich finden. Ich glaube, dass ich nicht der einzige Mensch mit dieser Sorge bin.