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Zivilcourage: Zurückhaltung ist angebracht

Gibt es auch als Podcast.

Die Kunst richtig zu Handeln

Jede und jeder von uns ist aufgefordert Zivilcourage zu zeigen und bei Ungerechtigkeiten mutig einzuschreiten. Sehen wir Mitmenschen in Notsituationen, dann sollten wir mutig sein. Diese Meinung habe ich schon immer vertreten und ehrlich gesagt auch dann praktiziert, wenn ich selbst mich in Gefahr gebracht habe. Das bedeutet nicht, dass es immer vorteilhaft ist, sich einzumischen. Wenn man therapeutisch tätig war, lernt man das. Im Nachhinein glaube ich sogar, dass es meistens besser ist, sich nicht bei allen Situationen einzubringen. Ich rede jetzt nicht in Akutsituationen, wo die Gefahr sofort unterbunden werden muss. Ich rede eher von Systemen, bei der die Gefahr kontinuierlich einwirkt. Ein gutes Beispiel sind Familien. Wenn Verwandte, Freunde oder Bekannte meinen, dass den Kindern in dem Verband Gefahr droht, dann ist es eine Selbstverständlichkeit sich verpflichtet zu fühlen etwas zu unternehmen. Ich glaube aber, dass das eher selten empfehlenswert ist. Was ich beobachtet habe ist, dass dadurch die Situation für die Kinder und der gesamten Familie eher schlimmer gemacht wird. Ich erinnere mich an vielen Beispielen aus der Arbeit mit Kindern in einer Psychosomatischen Klinik. Wenn Nachbarn versucht haben Kindern in krisenbehafteten Familien zu helfen, wurde es für alle Beteiligten schlimmer. Wir haben damals sogar bei kritischen und sehr bedrohlichen Situationen, die sich in den Nachbarhäusern zugetragen haben, empfohlen die Polizei zu rufen und nicht selbst einzugreifen. Das hat nichts mit Feigheit zu tun, sondern damit, dass eine Hilfestellung so am ehesten gewährleistet werden kann. Falsche Hilfe verschlimmert die Situation für die Betroffenen. Kann nicht professionell und nachhaltig interveniert werden, dann wird die Grundproblematik eher verstärkt und somit das Leid für die Beteiligten erhöht. Eine halbherzige gutgemeinte Hilfe führt oft zu einer Verschlimmbesserung der Gesamtproblematik.

Ein konkretes Beispiel
Wenn ich also der Ansicht bin, dass Eltern ihre Kinder Vernachlässigen, sie falsch oder unzureichend betreuen, sie emotional unterdrücken oder sonst einen Unfug betreiben, dann ist es meine Meinung und vielleicht sogar meine Überzeugung. Ob mir das das Recht gibt, Eltern zurechtzuweisen ist fraglich. Ich gehe soweit, dass ich allen Familienangehörigen komplett davon abrate, sich in die Erziehung ihrer Verwandten einzumischen, es sei denn, sie werden gefragt. Großeltern sind oft Spezialisten in solchen Dingen, aber Onkel und Tanten, Geschwister, etc. haben sich da rauszuhalten. Wenn die gute Freundin mit besorgter Miene ungefragt ihre Bedenken einbringt, ist es auch nicht ok. All diese Interventionen erzeugen Druck in einem System, dass sich arrangiert hat. Ich bin überzeugt, dass jede Familie das beste versucht, um miteinander auszukommen. Das gilt auch, wenn Probleme wie Geldsorgen, Alkohol, oder weitere Belastungen den Verband stark belasten. Es entstehen sehr komplexe dynamische Prozesse, die nicht allen Individuen gerecht werden. Einige Mitglieder leiden mehr als andere, manchmal bleiben auch welche auf der Strecke. Wenn man als Außenstehender solche Missstände beobachtet, dann ist der erste natürliche und absolut nachvollziehbarer Impuls, dass man helfen muss. Das geht mir genauso. Merke ich es, dann ermahne ich mich zur Zurückhaltung. Je näher mir die betroffenen Menschen am Herzen liegen, desto mehr versuche ich mich zurückzuhalten. Das bedeutet nicht, dass ich mich komplett abgrenze und mir sage: „du kannst nichts tun.“ Aber wie soll man sich dann verhalten?

Ich denke es ist wichtig sich vorab klarzumachen, wie man sich in so einer Situation verhalten sollte. Hier einige Tipps:

  1. Welchen Aufwand ist man bereit zu investieren
    Wer sich einmischt sollte sich bewusst werden, dass es Zeit und Energie kostet. Daher sollte man sich vorab klarmachen, über wieviel Ressourcen man verfügt. Ich kenne viele Menschen, die es im Nachhinein bereut haben und das Gefühl hatten völlig überfordert zu sein und aus dem Schlamassel nicht mehr herauszukommen.
  2. Wieviel Einblick und Zugang habe ich
    Kann ich wirklich die Situation ausreichend beurteilen, oder fehlt mir der Zugang zu weiteren Informationen. Kenne ich alle Seiten, Meinungen, Handlungsweisen und Hintergründe aller Beteiligten? Habe ich auch die Möglichkeit zeitlich und örtlich etwas bewirken zu können und meine Handlungen zu überprüfen? Dieser Punkt erscheint mir extrem wichtig. Wenn ich nur eine Partei als Quelle der Information habe, kenne ich nur eine Wahrheit. Das passiert viel zu häufig bei Hilfestellungen und daher entsteht noch mehr Schaden. Ebenfalls ist es äußerst bedenklich mit gutgemeinten Ratschlägen und Handlungsvorschläge wie, „du musst…“, „du darfst dir das nicht…“, „wehre dich…,“, etc. eine Person helfen zu wollen. Anders ist es, wenn man gebeten wird mitzukommen, um unterstützt zu werden. Das sollte man sich sehr genau überlegen, ob man dazu in der Lage ist. Auch hier ist es wichtig eine eigene Bewertung der Situation vorzunehmen und die eigenen Grenzen klar wahrzunehmen. Hat man das Gefühl instrumentalisiert zu werden, dann sollte man sofort die Notbremse ziehen und sich abgrenzen.
  3. Kann ich mich ausreichend abgrenzen
    Wenn man persönlich stark betroffen ist, wird man Teil des belastenden Systems. Die Gefahr sich in bestehenden Konflikten zu verstricken ist sehr hoch. Ebenfalls ist es typisch, dass dadurch zusätzliche Konflikte innerhalb der ohnehin bedrohlichen Situation entstehen. Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich diese Einmischung entwickelt. Ich glaube jeder kennt eine typische Auswirkung. Das System solidarisiert sich untereinander, legt erstmal die eigene Problemstellung beiseite und richtet sich gegen den helfenden „Eindringling“. Wie oft habe ich diesen Satz: „Ich wollte ja nur helfen“ gehört? Ehrlich gesagt, zu oft. Zum Thema Abgrenzung habe ich bereits eine ganze Menge geschrieben.
    Abgrenzung Teil1
    Abgrenzung Teil2
    Abgrenzung Teil3
  4. Alleingänge vermeiden
    Wann immer es geht, sollten wir uns Hilfe und Rat von anderen Menschen holen. Ist die Gefahr nicht unmittelbar, dann erst einmal hinsetzten, tief Luft holen und die ganze Sache überdenken. Wenn die Gedanken und die damit verbundenen Gefühle Zeit zur Reflexion bekommen, dann kann man doch einige Impulse relativieren. Anders ist es, wenn Gefahr im Verzug ist. Hier lautet die Regel: immer ein Organ hinzuziehen. Wenn es zu Gewalt kommt, dann ist die Polizei ein muss!
  5. Urvertrauen
    Dinge geschehen lassen, zu vertrauen, dass Menschen in Not es schaffen können ist eine schwierige Prüfung. Ich denke oft an mein Leben. Wie oft befand ich mich in kritischen Situationen? Für mein Geschmack zu oft und vor allem zu lange. Irgendwie habe ich es trotzdem geschafft. Dabei habe ich viel gelernt und natürlich auch viel Schaden abbekommen. Aber ist es nicht Teil des Lebens? Manchmal bekam ich Hilfe, oft aber nicht. Ich hätte daran zerbrechen können, tat es nicht. Wir können nicht alles was uns böse und schlecht widerfährt verhindern; weder für uns selbst noch für andere Menschen. Das bedeutet nicht, dass wir immerzu wegschauen sollen, alles was uns auffällt ignorieren oder gar verleugnen. Es bedeutet, dass wir lernen sollten unsere Grenzen und Möglichkeiten zu erkennen. Mutig sein bedeutet auch dort zu intervenieren, wo wir was bewirken können. Zivilcourage bedeutet verantwortlich zu handeln. Es geht nicht darum sich heldenhaft und aufopfernd für mehr Gerechtigkeit überall einzubringen. Die Rachefantasien, die in amerikanischen Heldenfilmen durch Gewalt in Gut und Böse kategorisiert und stumpfsinniger Brutalität befriedigt werden, helfen nicht. Es geht niemals um Gut und Böse, um Gerechtigkeit oder Gestörtheit. Es geht darum die Fähigkeit zu besitzen, wann und wie jeder von uns in solchen Situationen handeln kann.

Schlusswort

Wir sollen mutig sein und für unsere Überzeugungen kämpfen. Wir sollen helfen, wann immer wir können. Wir sollten aber vorher in der Lage sein abzuschätzen, wann unsere Zivilcourage auch eine Aussicht auf Hilfestellung hat. Nicht immer bedeutet viel hilft viel. Manchmal ist weniger viel mehr.

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